Sie haben hier etwas vor sich: einen liegenden weiblichen Akt. Einen Akt? Sind Sie eigentlich auch ein Akt, wenn Sie keine Kleider anhaben? Ein Akt ist etwas Getanes, etwas, was zu tun ist. Versuchen Sie mal, diesen Akt nicht zu sehen, den Rücken nicht als Rücken zu sehen, das Gesicht nicht als Gesicht zu erkennen.
In Wahrheit wissen Sie, dass das alles bloß gemalt, bloß ein Bild ist. Doch wenn es ein Bild ist, wie kommt es, dass es als Körperlichkeit, oder technisch ausgedrückt, als Dinglichkeit betrachtet wird und nicht einfach als Farben und Formen? Um diesen Körper nicht zu sehen, müsste man schon ganz hart gesotten sein oder man muss sich ganz besonders anstrengen, zum Beispiel Starren, den Blick unverwandt hinhalten.
Einfach nur zu sehen, was man sieht, ist ungeheuer schwierig. Jeder meint, er sehe hier einen Frauenakt. In Wahrheit sieht man Farben und Formen auf einer Fläche. Eine weitere Perspektive ist die der Stofflichkeit zum Beispiel. Gelingt es Ihnen, den Vorhang nicht als Ding zu sehen? Das gelingt nicht. Die Falle schnappt zu. Sehen und Begreifen ist ein und dasselbe.
Ich lade Sie nun ein, einen kleinen Versuch zu machen. Wenn Sie die beiden Farbfelder betrachten, dann sehen Sie Blau und Gelb. Sie werden nun denken: “Ja gut, das sind eben Blau und Gelb und wir wissen auch, dass, wenn wir diese Farben zusammen malen, Grün entsteht.” Das ist bekannt. Nun haben aber Farben eine Eigenschaft. Auch im Bild ist Farbe bloß Farbe. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein blaues Hemd an. Wenn ich Ihnen das Blau stehlen wollte, dann müsste ich Ihnen das Hemd mit stehlen. Wenn einer im Bild mit einer blauen Jacke gemalt ist, kann ich die Jacke nicht stehlen, aber das Blau wegmachen. Dann ist auch die Jacke weg.
Ich möchte damit sagen, dass selbst im Bild die Farbe zunächst nur als Natur auftritt. Dem Auge ist es völlig egal, ob es außen, in der realen Welt oder im Bild Blau sieht. Nun, dem Geist vielleicht nicht ganz. Wenn Blau und Gelb in einem Bild verbunden wären, dann hätte ich nichts anderes als Naturwirkung im Bild. Und jedes gemalte Bild arbeitet mit nichts anderem als mit Naturwirkungen. Nun verhalten sich aber auch die Farben schon in der Natur nie so, dass man dem Wahn unterliegen kann, Blau sei Blau. Ich bitte Sie nun, dieses kleine Spielchen zu machen: Bitte sehen Sie unverwandt eine Zeitlang auf die gelbe Fläche. Sie müssen ein bisschen einen intensivierten „Kuhblick“ machen. Nach einiger Zeit schauen sie schnell rüber auf das blaue Farbfeld.
Haben Sie etwas bemerkt?
Es kann eintreten, dass man bei diesem schnellen Wechsel entweder die Mischung erlebt und plötzlich zu einer Farbkombination vordringt oder dass man plötzlich gar nichts mehr sieht, weil sich die sogenannten Gegenfarben in den Vordergrund drängen. Farbe wirkt in der Natur, in der sensuellen, optischen Erscheinung, sodass sie sich verwandelt. Das Blau provoziert in uns ein Gegenbild, und wenn das ein bisschen Rotblau ist, dann geht das auf Gelb hin, Reinblau würde auf Blau hingehen. Das wird Komplementärfarbe genannt. Reingelb würde auf Violett zugehen, dieses sehr stark rothaltige Gelb auf ein Grünblau. Es steckt also in jeder Farbe die Provokation, die Gegenfarbe im Auge zu erzeugen. Und wenn das im schnellen Wechsel geschieht, dann gibt es Zwischenfarben, die zum einen wie eine Mischung aussehen und zum anderen auch die ganze Atmosphäre mit umfärben.
Wir sehen hier eine Szene von Gustave Caillebottes “Europabrücke”. Wenn man das Bild betrachtet, kommt man nicht umhin, auch die Gegenstände zu benennen. Wo Sie auch hinschauen, Sie haben sofort einen Begriff präsent. Es wäre fast peinlich, bei den verschiedenen Dingen zu fragen, was Sie sehen, doch eben das ist verdächtig.
Da ist beispielsweise ein Hund. Würden Sie eine wahre Antwort geben, müssten Sie sagen: „Das ist eine Ansammlung hellbrauner und etwas dunklerer Flecken auf dieser Fläche.“ Aber dazu müssten Sie sich schon gewaltig zwingen. Außerdem müssten Sie schon sehr nahe herangehen, um diese Feststellung zu machen. Erst wenn Sie den Überblick verlieren durch Nähe, dann können Sie das sagen. Sonst drängen sich Begriffe wie “Hund”, “Frau”, “Mann”, “Brücke”, “Eisenkonstruktion”, “Häuser”, “Wolken”, “Straße”, “Sonntagvormittag” unabweisbar auf.
Sehen und Erkennen findet hier gleichzeitig statt. Man kann das nicht trennen. Und damit kommt bei diesem Bild auch eine gewisse Attitüde auf, eine Begriffsattitüde, Sehen und Begreifen immer als einen Vorgang zu verstehen. Nun muss man verstehen, worin die eigentliche Provokation, die eigentliche Zumutung liegt. Das Bild sieht so aus wie die sogenannte Wirklichkeit und kann deshalb mit ihr verwechselt werden. Dass Sie diesen Hund nicht am Schwanz ziehen können, und dass er immer noch nicht im Bild ist, seine eine Pfote also immer noch draußen, außerhalb des Bildrahmens, hängt, ist ganz klar. Dass der Hund im wahrhaftigen Sinne also keine Fortschritte macht und wir immer noch hinterher sind.
Man musste erst zu einem Verfahren kommen, welches sichtbar macht, dass der Hund tatsächlich weiter rennt. Doch das Kino war noch nicht erfunden beziehungsweise der durch hintereinander geblendete Standbilder entstehende illusionäre Eindruck eines Bewegungskontinuums noch nicht entdeckt. Es entstand aber durch die 1876 erreichte Perfektion ein ganz neues Verhältnis zum Bild. Dieses Verhältnis läutete ein anderes Verhalten des Menschen zu seinen Sinnen und zu seinem Begreifen ein.
Betrachten wir nun die bekannten „Felder im Frühling“. Hier sehen Sie das ganze Bild übersät mit Tupfen. Wenn Sie mal nicht beachten, dass das typisch Impressionismus ist, dann kann man hier eine ziemlich große Gliederung beobachten. Da sind nicht nur Tupfen, sondern auch eine gelbe Fläche, die ins Rotgelbe, ins Orangegelbe übergeht und ein Blassblau im mittleren Hintergrund, das zum Teil vertieft wird. Und dann noch der Himmel, den können Sie auch als Farbfläche weiß durchsetzten Blaues sehen. In der rechten Bildhälfte: drei Akzente, mehr oder weniger senkrechte Bäume. In der Mitte der unteren Bildhälfte eine aus Blau, Grün, Weiß, Gelb und einem Tupfer Rot zusammen gewebte Gestalt mit Hut und Sonnenschirm. Links davon in der Wiese eine gerade noch zu erahnende, undeutlich herausgestellte Gestalt. Vielleicht ein Kind, das Blumen pflückt? Einzelne Tupfen könnten gegenständlich noch als zahllose Blüten einer Wiese, einzelne hier als Blätter am Baum interpretiert werden, doch das geht darüber hinaus. Das wird nie und nimmer eine geschlossene Wiese.
Ich habe es hier mit Gelb, Blau und mit Tupfen zu tun. Und nun, wie benimmt sich nun anständiges Laub am Baum? Ein anständiges Blatt am Baum ist einfach grün. Wenn Sie hier nun dieses Blätterspiel betrachten, sehen Sie, dass diese Blätter nicht einmal mit dem Baum verbun- den sind, dabei braucht jedes Blatt eine Verbindung zum Baum, um an ihm dranzubleiben. Das muss ja technisch und organisch irgendwie gelöst sein: wenn Blatt, dann muss es am Baum dran sein. Hier sehen Sie nun lauter Elemente, die gar nicht mit dem Baum zusammengeführt sind; für einen realen Baum wäre das ganz unmöglich. Aber anschaulich bemerken Sie hier blaue Flecken, bemerken Sie hier gelbe Flecken, und, im Vergleich, ganz wenig echt grüne Flecken.
Nun kann man noch folgende Beobachtung dazu bringen: Setzen Sie mal Ihren Blick am unteren Ende der Bäume an und versuchen Sie eine Richtung einzuschlagen. Wohin werden Sie geführt? Ich könnte auch weiter oben ansetzen und sagen: “Gucken Sie irgendwohin.” Zunächst sind dort diese senkrechten Baumstämme. Für das Auge sind das Provokationen, sich mit dem Blick nach unten oder oben zu bewegen. Wenn Sie tun, was diese Bildelemente anregen, nämlich mit dem Blick durch die unruhige Landschaft zu streichen und den Blick von oben nach unten und umgekehrt bewegen, dann sieht man im Streifblick den Wechsel von Blau und Gelb, die ineinander verschmelzen.
Nach einiger Zeit macht man eine interessante Erfahrung: wie nämlich das Blau und das Gelb - es gibt keine blauen Blätter und keine gelben Blätter in der Natur - sich jetzt hier zusammenfügen zu einem Element der Grünerfahrung, die nicht durch grüne Dinge eingeleitet wird, sondern dadurch, dass Blau und Gelb ineinander wirken und sich im Prozess des Vorbeistreifens des Blickes anfangen zu vermischen. Sie können das beobachten, wenn Sie nun die Bahnen verlassen und auch mal mit dem Blick irgendwie wild durch das Bild gehen.
Das Gemälde zeigt die entmischten Farbflächen in einer deutlichen Gliederung, wie beispielsweise im Hellblau des Kanals, der von links zur Bildmitte führt, in den verschiedenen grünen Rasenstücken, im roten Busch zur rechten, im gelb-orangefarbenen Herbstlaub und im Ausschnitt des Himmels oben links.
Gauguins Interesse, die Bildfläche in farbige Teilflächen zu gliedern, ist mit Maßnahmen in Verbindung zu bringen, die die Einheit des Perspektivsystems von Seiten der Farbe her noch weiter relativieren. Denn nur sehr bedingt lassen sich diese einzelnen Farbpartien in die Einheitlichkeit einer abbildlichen Raumvorstellung einfügen: Kaum lässt sich mit diesen Farbflächensegmenten ein Licht-Schatten-System darstellen, das sich bruchlos in die zeichnerische Systemperspektive einbettet. Noch weniger Eindruck eines kontinuierlichen Tiefenraums.
So finden wir in den größeren wie auch in den kleineren Teilflächen weiche Übergänge von einer Farbe in die andere, von Blau zu Rosa, von dunklem Grün bis ins helle Rotbraun. Die Farbflächen sind oft kleinteilig durchgearbeitet, impressionistischen Farbstrukturen vergleichbar, die nicht aus einer einheitlichen Farbe, sondern aus einer Vielheit von winzig kleinen Farbelementen bestehen.
Die Vorträge wurden, wenn nicht anders angegeben, jeweils um 18 Uhr im Wittener Saalbau an folgenden Abenden gehalten:
Im Sommersemester 2014 beginnt die Überarbeitung der Vorträge innerhalb eines Seminars, das Dr. David Hornemann v. Laer unter dem Titel „KUNST SEHEN“ anbietet.
Im Wintersemester 2014/15 beginnen wir auf Anregung des Studenten Christian Wendlandt mit „Google Docs“ zu arbeiten. So bekommt jede/r SeminarteilnehmerIn eine Berechtigung zur Überarbeitung der Vorträge und es wird für alle nachvollziehbar, wie die Texte verändert werden.
Bis zum Wintersemester 2017/18 arbeiten rund 65 Studierende an den Texten, füllen Textlücken, machen sich an die Bildersuche und geben dem Text eine Form, die den Vortragsstil beibehält und gleichwohl lesbar ist.
Immer wieder wird die Form der geplanten Veröffentlichung diskutiert. Soll ein Buch gleich mehrere Vorlesungen enthalten? Nach welchen Gesichtspunkten würde man sie ordnen? Soll es auch eine elektronische Form der Veröffentlichung geben?
Versuchsweise liest die Studentin Isabell Przemus im Sommersemester 2015 drei Vorträge im Tonstudio ein. Im Seminar bemerken wir, dass das auch als eBook mit Bildern funktionieren würde.
Bevor das Wintersemester 2016/17 beginnt, besuchen Andrea Kreisel, Amelie Scupin zusammen mit David Hornemann v. Laer die Frankfurter Buchmesse. Gespräche mit der Cheflektorin vom Wienand Verlag, mit dem Info3 Verlag und den auf digitale Kunstbücher spezialisierten, in Belgien ansässigen Musebooks Verlag.
Im November folgt die Entscheidung für den Info3 Verlag.
Ramon Brüll (Verlagsleiter) und Frank Schubert (Grafiker) kommen ins Seminar und wir sprechen über mögliche Formen einer Zusammenarbeit.
Wir entschließen uns, zunächst drei Bände fertigzustellen.
Nach mehreren Entwürfen und der Idee, in einem Band fünf Vorlesungen zu versammeln, kehren wir zur Idee einer Einzelbandveröffentlichung zurück.
Im Februar 2018 erscheinen die drei ersten Bände „Kunst Sehen“ im Info3 Verlag. Die Bände werden am 21. Februar – Michael Bockemühl wäre an diesem Tag 75 Jahre alt geworden – anlässlich eines Symposiums mit dem Titel: „Bockemühl 75 und die Aktualität eigener Sinneserfahrung“ im Audimax der Universität Witten/Herdecke vorgestellt.
Prof. Götz Werner hält eine Rede und seine Stiftung spendet 25.000 € für das Projekt KUNST SEHEN.
Die Lektorin Dr. phil. Silke Kirch steigt mit in das Projekt ein und lektoriert die folgenden Bände und hilft mit, die teils lückenhaften Texte (die auf Tonband aufgezeichnete Vorlesung ist nicht immer ganz deutlich zu verstehen) zu ergänzen und in einen gut lesbaren Text zu verwandeln.
Im Oktober 2018 erscheinen Band 4 KUNST SEHEN. Vincent van Gogh und Band 5 KUNST SEHEN. Paul Cézanne.
Im April 2019 erscheinen Band 6 KUNST SEHEN. Pablo Picasso und Band 7 KUNST SEHEN. Wassily Kandinsky.
Im September 2019 erscheint Band 8 KUNST SEHEN. Emil Nolde. Die Publikation zu diesem Künstler erfolgt mitten in der Diskussion um Emil Noldes nationalsozialistische Vergangenheit, die anlässlich der Ausstellung „Emil Nolde – eine deutsche Legende“ im Hamburger Bahnhof angeregt wurde und die Verbannung zweier Bilder dieses Künstlers aus dem Arbeitszimmer der Bundeskanzlerin zur Folge hatte. Angela Merkel bekommt den Band mit einem Brief persönlich überreicht von Elisabeth Motschmann MdB. Zeitgleich erscheint der Band 9 KUNST SEHEN. Piet Mondrian.
Im Juli 2020 erscheinen Band 10 KUNST SEHEN. Paul Klee und Band 11 KUNST SEHEN. Salvador Dalí.
Im April 2021 erscheinen Band 12 KUNST SEHEN. Mark Rothko. Barnett Newman. Ad Reinhardt und Band 14 KUNST SEHEN. Joseph Beuys. Letzterer Band wird anlässlich des 100. Geburtstages von Beuys am 12. Mai 2021 vorgezogen.
Band 13 KUNST SEHEN. Francis Bacon I Cy Twombly und Band 15 KUNST SEHEN. J.M.W. Turner erscheinen im Mai 2022.
Im Oktober 2023 erscheinen Band 16 KUNST SEHEN. Michelangelo und Band 17 KUNST SEHEN. Auguste Rodin.